„Die Gehry Bauten tanzen doch!“
In einem ehemaligen Düsseldorfer Straßenbahndepot, unweit des Hauptbahnhofs, befindet sich eine der renommiertesten Tanzbühnen Europas: das Tanzhaus NRW. Mit seinen zwei Bühnen und acht Tanz- und Probenstudios ist es in den letzten 25 Jahren zu einem internationalen Zentrum für zeitgenössischen Tanz avanciert. Der Spiel- und Produktionsort, der auch als Akademie dient, ging aus der 1978 gegründeten „Werkstatt für Tanz, Theater, Malen, Werken und Gestalten e. V.“ hervor und entwickelte sich unter der Ägide des Gründers Bertram Müller und seiner Nachfolgerin Bettina Masuch zur Institution für Tanz. Seit 2022 wird das Tanzhaus NRW von der litauischen Dramaturgin, Tänzerin und gefeierten Tanzkritikerin Ingrida Gerbutavičiūtė geleitet. 13 Jahre verbrachte Gerbutavičiūtė während und nach ihrem Studium in Berlin, sechs in Frankfurt am Main, bevor sie vor anderthalb Jahren nach Düsseldorf zog. Für sie ein großer Glücksmoment. Warum, das verrät sie im Gespräch.
Was hat dich daran gereizt, die Leitung des Tanzhaus NRW zu übernehmen?
Das ist meine Lieblingsfrage. Ich wurde das schon mehrfach gefragt und habe mich anfangs darüber gewundert. Denn das Tanzhaus NRW ist DIE Institution in der zeitgenössischen Tanzwelt, es genießt großes internationales Renommee. Wenn du heute Tänzer*innen fragen würdest, wo sie in Deutschland auftreten möchten, würden 99 Prozent sagen: im Tanzhaus NRW. Weltweit ist das Tanzhaus NRW für die Bühne und das künstlerische Programm bekannt. In der Stadt jedoch, wie ich festgestellt habe, wird es auch sehr für seine Akademie geschätzt. Uns ist beides wichtig – Bühne und Akademie. Im Rahmen der Akademie haben wir für alle Altersgruppen ein breites Kursangebot. Denn hier soll die Trennung von Hoch-, Sub- und Soziokultur überwunden werden. Unser zentrales Anliegen ist die kreative Auseinandersetzung mit dem menschlichen Körper und seiner Rolle in den Gesellschaften der Gegenwart.
Was macht dich an deiner neuen Wirkungsstätte besonders glücklich?
Mein ganz persönlicher Wunsch war immer, ein Haus oder ein Festival zu leiten. Da wir am Tanzhaus NRW auch Festivalreihen veranstalten, haben sich für mich mit einem Mal beide Wünsche erfüllt. Das ist ein großes Geschenk. Ich liebe Menschen und ich liebe Tanz – insofern bin ich hier richtig. Jeden Tag in den Austausch mit den Kolleg*innen zu gehen ist eine tolle Erfahrung. Besonders glücklich macht es mich, wenn das Publikum zufrieden ist und beseelt aus der Vorstellung kommt. Auch die freudigen Gesichter der Teilnehmer*innen der Akademie während oder direkt nach den Tanzkursen bestätigen mir immer wieder, wie viel der Tanz zum Wohlbefinden jeder/s Einzelnen beitragen kann.
Was möchtest du im Tanzhaus NRW verändern und vorantreiben?
Ich möchte zukünftig mehr auf die Bedürfnisse der verschiedenen Gesellschaftsgruppen oder, wie ich sie lieber nenne, Gesellschaften eingehen. Unsere Kurse in Tap, Hip-Hop, Urban Dance, Voguing oder Ballett sollen stärker von einem Angebot flankiert werden, das gesundheitlich ausgerichtet ist. Wir haben schon Kurse für Menschen mit Parkinson entwickelt und jetzt gerade in Kooperation mit dem Scottish Ballet ein Projekt für Menschen gestartet, die an Demenz erkrankt sind. Der nächste Schritt wird sein, mit Menschen zu arbeiten, die an Multiple Sklerose leiden. Dann möchte ich ein tänzerisches Angebot schaffen, das die Generationen verbindet. In der Akademie bieten wir schon Kurse an, in denen Kinder mit ihren Eltern und Großeltern tanzen können. Mein Wunsch für die Zukunft ist es, Seniorenheime und Jugendheime zusammenzubringen und den Tanz für ein generationenübergreifendes Projekt zu nutzen. Wir sind gerade dabei, die Jugendkompanie wiederzubeleben und eine Seniorenkompagnie zu gründen. Inklusion und Nachhaltigkeit werden gerade sehr gezielt angegangen.
Das Tanzhaus NRW hat in diesem Jahr sein 25-jähriges Jubiläum gefeiert. Wie wird oder wurde das Jubiläumsjahr begangen? Gab oder gibt es besondere Events und Veranstaltungen?
Anfang September sind wir mit einem Jubiläumsfestival in die neue Spielzeit gestartet. Dabei waren unterschiedliche künstlerische Positionen und Formate vertreten. Neben dem Eröffnungsstück Carcaça des portugiesischen Choreografen Marco da Silva gab es mitten in der Stadt französischen urbanen Tanz mit Bouzid Ait Atmane und Saïdo Lehlouhs „The Dancing“ zum Zuschauen und Mittanzen. Es gab Konzerte und Partyabende, Brigitte Huezos virtuelle Installation „Post Digital Bodies“. Das Haus wurde also bereits vielfältig gefeiert!
Was bedeutet es für das Tanzhaus NRW auf ein Vierteljahrhundert Geschichte zurückzublicken?
Der Verein, aus dem das Tanzhaus NRW hervorgegangen ist, wurde bereits vor 45 Jahren ins Leben gerufen, seit 25 Jahren trägt er den Namen Tanzhaus NRW und ist an der Erkrather Straße ansässig. Das Haus kann stolz zurückblicken, denn es hat sich in der Zeit zu einer in der Tanzszene weltweit renommierten Institution entwickelt. Gleichzeitig ist das Tanzhaus NRW eine wichtige Anlaufstelle für verschiedene Communities in Deutschland und Düsseldorf, wenn es um das Erlernen und Ausüben verschiedener Tanzstile geht. Auch die Zusammenarbeit mit Düsseldorfer Schulen und Bildungseinrichtungen hat sich etabliert, vor den Sommerferien zeigen Schüler*innen ihre erlernten Tänze auf unserer großen Profibühne. Durch den Austausch mit jungen Menschen wissen wir, was sie bewegt, was ihre Themen sind – davon können wir alle nur profitieren.
Das Tanzhaus NRW mal außen vor: Wie nimmst du Düsseldorf wahr, wenn es um Kunst und Kultur geht?
In meinen Augen hat die Stadt alles. Die Kunst- und Kulturszene ist sehr lebendig. Alle Sparten sind vertreten und sichtbar in der Stadt. Das ist für Düsseldorf ein Pfund, mit dem es wuchern kann. Städtische Einrichtungen wie das Schauspielhaus, das Ballett und die Oper am Rhein oder auch die Tonhalle werden flankiert von Kunstinstitutionen. Auch die freie Szene ist sehr aktiv. Dazu gehören neben uns auch das Forum Freies Theater FFT und das zakk. Dann gibt es diverse Festivals, die das Kulturangebot einzigartig machen. Ich denke an das New Fall Festival, Approximation, Asphalt oder Chance. Aber auch an das Impulse Festival. Jedes zweite Jahr trifft sich die internationale Tanzszene im Rahmen der internationalen Tanzmesse NRW in Düsseldorf Andere Städte können im Hinblick darauf wirklich neidisch sein.
Und was schätzt du an Düsseldorf jenseits des Kulturangebots?
In der Größe ähnelt Düsseldorf meiner Heimatstadt Vilnius. Man ist schnell dort, wo man hinwill, das finde ich sehr angenehm und bin froh, hier wohnen zu dürfen.
Unterscheidet sich Düsseldorf von den Städten, in denen du zuvor gelebt hast, von Berlin oder Vilnius? Wenn ja, worin?
Es gibt hier eine große Offenheit. Die Aufgeschlossenheit und Hilfsbereitschaft kommen wirklich von Herzen. Das hat mir von Anfang an ein sehr gutes Gefühl gegeben.
Gibt es etwas, das du vermisst?
Nun, ich vermisse Vilnius, weil es meine Heimat ist – und ich vermisse meine Familie.
Wohin gehst du, wenn du Inspiration suchst?
Ich besuche dann internationale Tanzfestivals und -konferenzen. Ich war gerade bei „Aerowaves – dance across Europe“, einem Netzwerk der größten Tanzinstitutionen Europas. Sie veranstalten einmal jährlich ein Festival, bei dem 20 Newcomer ausgezeichnet werden. Ich war in der Jury und wir mussten knapp 800 Bewerbungen sichten und bewerten. Da bekommst du in kurzer Zeit sehr viel Input und siehst, was in den jeweiligen Ländern angesagt ist, lernst neue, interessante Perspektiven kennen.
Wohin führst du Freund*innen aus, die zu Besuch kommen?
Wenn ich Gäste habe, gehe ich gerne mit ihnen in die Paris Bar im 25hours Hotel. Dort kann man mit fantastischem Blick auf die Skyline von Düsseldorf einen Drink nehmen.
Hast du einen Lieblingsort in Düsseldorf?
Ich liebe die Gehry-Bauten im Medienhafen. Sie wirken auf mich, als ob sie tanzen würden. Sie tanzen doch, oder?! (lacht) Ein wunderbarer Ort. Ich bin oft im Medienhafen, wenn ich Termine beim Kulturamt habe. Auf der einen Seite ist er touristisch interessant, gleichzeitig ist man direkt am Rhein und somit auch in der Natur. Das finde ich einzigartig. Das silbrige Pebble’s vor dem Hyatt Regency Hotel, das wie ein Raumschiff aussieht, das auf der Landzunge gelandet ist, möchte ich auf jeden Fall auch noch mal von innen kennenlernen.
Was machst du, wenn du abschalten willst?
Ich gehe gern im Ostpark spazieren. Ich wohne in Flingern und er ist bei mir direkt um die Ecke. Für größere Spaziergänge gehe ich in den Wildpark – meine kleine Tochter ist neun Monate alt und liebt den Park.
Interview: Ilona Marx
Fotos: Markus Luigs
Tipp: Unser Podcast „Alle Rhein!“ mit Flockey Ocscor, der ein Mann mit vielen Talenten ist. Als Tänzer hat er mit seiner Crew zweimal den Vizeweltmeistertitel in der Disziplin Locking im Rahmen der „Just Debout World Finals“ in Paris gewonnen und im Tanzhaus NRW seit vielen Jahren unterrichtet. Ocscor ist international bekannt, selbst die legendäre Erykah Badu hat ihn auf dem Schirm. Unser Podcast-Host Mike Litt hat ihn im Schauspielhaus für „Alle Rhein!“ getroffen.