Düsseldorf 2025 – Ein Kalender von Henk Wyniger & Sven-André Dreyer

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Henk Wyniger & Sven-André Dreyer und wie sie die Stadt sehen

Lost Places, Loved Places & Geheimtipps – Henk Wyniger und Sven-André Dreyer haben einen Kalender für Düsseldorf kreiert, der neue Perspektiven auf die Stadt öffnet. Henk Wyniger ist Illustrator und Designer und hat seine Heimatstadt Düsseldorf schon mehrfach mit seiner klaren Linienführung in seinem unverwechselbaren Stil festgehalten. Im Kalender 2025 findet man zwölf Illustrationen, die neue Facetten und Blickwinkel auf Düsseldorf zeigen. Der literarische Beitrag stammt von Sven-André Dreyer, der beispielsweise das Sachbuch „Keine Atempause. Musik aus Düsseldorf“ schrieb. Jede seiner Kalendergeschichten ist eng verknüpft mit dem auf der Zeichnung abgebildeten Ort. Doch sollte man nicht das Offensichtliche erwarten, sondern der manchmal rätselhaften, gelegentlich verklausulierten Erzählung folgen.
Wir freuen uns, euch eine Geschichte zum Lesen anbieten zu können, den Oktober. Auf dem Kalenderblatt lässt Henk Wyniger einen Mann mit Filzhut durch den Regen laufen. Sven-André Dreyer hat den inneren Dialog des Mannes ersonnen.
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54° 7′5″ N, 8° 22′ 0″ O

„Die Zukunft, die wir wollen, muss erfunden werden. Sonst bekommen wir eine, die wir nicht wollen.“
Joseph Beuys

Rund 500 Kilometer Luftlinie entfernt von Düsseldorf kämpfte die Sueño am 14. April 1986 gegen die rauen, schaumgekrönten Wellen der Nordsee einen ungleichen Kampf. Das Gischtwasser sprang über die Reling, das Salz in der Luft reinigte und heilte die Lungen der Seeleute und ihrer Passagiere; keine Krankheiten, keine Entzündungen. Das Schiff so klein, die Deutsche Bucht so groß, aber was ist schon Größe? Und: Heißt Sueño nicht Traum?

Mein künstlerisches Konzept begann im Denken. Mein bildhauerischer Prozess bestand darin, das Denken anschaulich zu machen. Denkt nach, Leute, denkt nach! Wer nicht denken will, fliegt raus! Ein unbändiger Gestaltungswille, ein Drang, ein Zwang, nie Pause. Und immer wieder Provokation. Provokation erzeugt Polarisierung erzeugt Denken. Provokation erzeugt Widerstand. Eine wahre Opposition. Das schafft Bewegung im Geist. Bewegung. Ich mochte es, Rad zu fahren. Vom Drakeplatz, von der Wildenbruchstraße über die Oberkasseler Brücke zur Akademie. Und zurück. Auch in den Semesterferien. Auch an Samstagen. Dabei betrachtete ich den Rhein. Innig. Lange. Den großen Strom, der nie versiegen mag. Ich mag Wasser. Fluxus. Und immer ist es die Idee, nicht das Werk. Die Idee: Produktionsprozesse, die in das Leben einwirken, einfließen. Die Kunst und das Leben sind nicht zu trennen, rennen, Rad fahren. Ich träume. Von weiten Landschaften, von Feuchtwiesen, von Stillgewässern. Ich träume von schnurgeraden Alleen, kopfsteingepflastert, träume von Kopfweiden im Nebel, nur Schemen um mich, nass und kalt und wie Spinnweben, die ich mir aus dem Gesicht wischen muss. Besonders im Regen besaß der Fluss eine magische Anziehungskraft.

Dass sie allerdings ausgerechnet mir einen Straßenabschnitt, einen Uferabschnitt widmen würden, war nicht abzusehen. Zufälle. Und manchmal mehr als das. Es hatte Ärger gegeben mit der Obrigkeit, ich hatte mich erklären müssen, immer wieder, und dennoch wollten sie nicht verstehen. Sie hatten mich heimgeholt mit dem Blauen Wunder, linksrheinisch nach rechtsrheinisch, der Himmel war bedeckt, ein böiger Wind und starke Wellen auf dem Rhein. Wir legten aufgrund der starken Strömung nicht am Schlossturm an, wir legten an der Nordbrücke an und feierten im Ohme Jupp. Ich stelle den Mantelkragen auf an diesem grauen Tag, werfe Gedanken in den Wind. Eine Gesellschaftsordnung wie eine Plastik zu formen, das war meine und die Aufgabe der Kunst. Ich schneide mich und verbinde das Messer, ich träume, träume von dem zerschmetterten Rumpf einer Ju 87, der liegt im verschneiten Niemandsland, träume von Metallsplittern in meinem Körper, von Tataren, die mich salben mit Fett und in wärmenden Filz hüllen, um mich vor der Kälte zu schützen und damit vor dem sicheren Tod. Ich war vom Himmel gefallen und wurde geborgen, geboren eine Legende, die die Risse in den aufgetürmten Blöcken aus Fett immer und immer wieder erzählen.

Die Kreativität und die schöpferische Energie des Einzelnen können als Kapital und Potenzial einer Gesellschaft bezeichnet werden. Documenta, ich komme! Meine Haare sind nun grau und rau ist die Welt da draußen, die ich umarmen möchte, die ich loslassen musste. Im Himmel nur ein blaues Loch, aus dem die Sonne schien, ich warf einen großen Schatten, ich war ein Werkzeug, ich bin ein Werkzeug, ich schrieb einen Werklauf, keinen Lebenslauf. Die Hände auf der Brust wie Krähenkrallen, ich träume von Kojoten – Little John – und toten Hasen, ich mag Amerika, und Amerika mag mich.

Es wurde schönster Herbst, es wurde eisiger Winter, die arktischen Wildgänse, Silberreiher, Schwarzkehlchen meine Begleiter nicht. Es wurde Frühjahr, die Sonne erinnerte sich müde an den Sommer, am Mast hing eine Fahne und wehte nicht.

Ich träume. Von weiten Landschaften, von Feuchtwiesen, von Stillgewässern. Ich träume von letzten Altarmen des Stroms, von Wildgänsen und Silberreihern und Schwarzkehlchen. Ich träume von kopfsteingepflasterten schnurgeraden Alleen, träume von Kopfweiden im Nebel, nur Schemen um mich, nass und kalt und wie Spinnweben, die ich mir aus dem Gesicht wischen muss. Ich träume vom Anfang, von Moortgat, Meunier und Minne, ich träume im Fieber.

Die Sueño kämpfte gegen die rauen Schaumkronenwellen der Nordsee einen ungleichen Kampf. 54 Grad, sieben Minuten und fünf Sekunden Nord. Acht Grad, 22 Minuten und null Sekunden Ost. Das Schiff so klein, die Bucht so groß, aber was ist schon Größe? Und: Heißt Sueño nicht Traum? Ich ziehe den Schal enger, stelle den Mantelkragen auf, der Hut tief in meinem Gesicht. Nun bin ich Meer und Welle und Wind, bin schwarzes Gewölk, das über der See zusammengeschoben wird, bin weißer Wolkenturm, bin überall und nirgendwo, bin fließend wie Gedanken, wie Wasser, wie Kunst, wie Leben.

Info

Sven-André Dreyer arbeitet als freier Journalist und Autor. Er organisiert Lesebühnen und veröffentlichte mehrere Bände mit literarischen Texten. 2018 erschien das Sachbuch „Keine Atempause. Musik aus Düsseldorf“ (Droste Verlag), das als Grundlage für die regelmäßig stattfindende musikalische Stadtführung „The Sound of Düsseldorf“ dient. Für „Google Arts & Culture“ kuratierte er die Online-Ausstellung „Music, Makers and Machines“.
Mehr Informationen zur Tour „The Sound of Düsseldorf“.

sven-andre-dreyer.de

Henk Wyniger arbeitet als Werbe-Illustrator und Designer. Die zeichnerische Begabung wurde ihm in die Wiege gelegt – und so lag das Studium der Illustration in Straßburg und Offenbach nahe. Seine Begeisterung für die klare Linie drückte Henk zunächst in drei Comic-Alben für den renommierten Carlsen-Verlag aus. Mit seinem 1996 gegründeten Designbüro verwandelt der kreative Allrounder seither sein Talent in Verpackungsdesigns, Charakter, Comics und bunte Werbewelten für bekannte Marken.

wyniger.de

Illustrationen: Henk Wyniger
Kalendergeschichte: Sven-André Dreyer

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