Monumental bis in die Tiefe
Katharina Sieverding hat der Großfotografie ein Gesicht gegeben. Das ist wörtlich zu nehmen, denn immer wieder kreist ihr Werk um Selbstporträts. Das große Format hatte Sieverding für sich entdeckt, noch bevor die Begründer*innen der Düsseldorfer Fotoschule Bernd und Hilla Becher es zu einem neuen Paradigma erhoben. In einer umfangreichen Überblicksausstellung würdigt das K21 der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen die seit rund sechs Jahrzehnten in Düsseldorf lebende Fotokunstpionierin.
Dass dabei Sieverdings frühe Selbstporträts, ihre Polaroids von 1969, als „Nukleus“ ihres Schaffens zu entdecken sind, ist nicht nur kunsthistorisch spannend, sondern auch eine große Show. Denn die Künstlerin, deren Konterfei die Besucher*innen bereits über der Treppe zu den Ausstellungsräumen empfängt – strenger Zopf, rote Lippen, Sonnenbrille – ist eine grandiose Performerin. Und zugleich bleiben sie und ihr Werk geheimnisvoll. Zumeist entziehen sich die Arbeiten der heute über 80-Jährigen einer Bedeutungsfestschreibung und sind in ihrem Bezug dennoch sehr konkret. Ein Kunststück.
In Prag geboren, im Ruhrgebiet aufgewachsen, begann Katharina Sieverding 1964, an der Düsseldorfer Kunstakademie zu studieren, zunächst Bühnenbild. 1967 wechselte sie in die Bildhauer-Klasse von Joseph Beuys, dessen Meisterschülerin sie wurde. Vor Aufnahme ihres Akademiestudiums hatte Sieverding bereits am Theater gearbeitet, zuerst im Malersaal des Deutschen Schauspielhauses Hamburg unter Intendant Gustaf Gründgens. Später als Assistentin des großen Film- und Theaterregisseurs Fritz Kortner, dem sie unter anderem ins Wiener Burgtheater folgte.
Katharina Sieverding und das Experiment der Ermächtigung
Es ist beides, die sichtbare Lust an der Selbstdarstellung und das Hinterfragen von vielem: den politischen Systemen, der Gesellschaft und ihren Rollenbildern, der kulturellen und medialen Deutung von Vergangenheit und Gegenwart, die das Werk von Katharina Sieverding ausmachen. Eine Selbstermächtigung und gleichzeitige Selbstergründung, gerne im Experiment, die weder die gewählten Darstellungsmedien noch die eigene Identität ausspart. Als junge Frau stand Sieverding nicht nur zeitweise hinter der Theke der legendären Künstlerkneipe Creamcheese, sie jobbte auch im angesagten Mora’s Lovers Club im Kö-Center. Dort habe sie eine Performance gebracht, die sie von jeglicher Genderzugehörigkeit emanzipiert habe, sagte sie einmal in einem Interview. Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus einem Passbildautomaten vor dem Club bezeugen dies – die Künstlerin als androgyne Erscheinung, stark geschminkt und mit schwarzen Locken.
„Der Photomaton (Eigenbezeichnung des Automatenherstellers/Anm. d. Verf.) wurde für mich zum Studioersatz, er ist die kleinste Einheit – Fotostudio, Kamera und Labor in einer Kabine“, so Sieverding. Die seriellen Automatenfotos zog sie später groß auf. Im K21 finden sich „Maton I – III“ mit Spiegel kombiniert, zum Betrachten seiner selbst. Für die Serie „Transformer“ nutzt die Künstlerin Doppelbelichtungen, um ihr eigenes Gesicht mit dem ihres Lebenspartners Klaus Mettig zu überblenden. Im Ausstellungsparcours wird ein kompletter Raum auf allen vier Wänden mit wechselnden Projektionen dieser fluiden Porträts bespielt. Identität, Gender und auch Race: Als Künstlerin in einer von Männern dominierten Kunstwelt hat Katharina Sieverding Kategorien wie diese auf ihren Sinngehalt abgeklopft und selbstbewusst erweitert – lange, bevor andere dies taten.
Was ist das eigentlich, „deutsch“?
Nicht nur ihre künstlerischen Verfahrensweisen, von Mehrfachbelichtungen und Überblendungen bis hin zu Spiegelungen und Solarisationen, machen dabei die Gegenwärtigkeit ihrer Kunst aus. Es ist der kritische Blick auf die Gesellschaft und die Bereitschaft, sich einzumischen. „Deutschland wird deutscher“, eine von Sieverdings bekanntesten Arbeiten, entstand 1992. Das war kurz nach der Wiedervereinigung und den rassistischen Pogromen in Hoyerswerda, Rostock, Mölln. Hier ist die Künstlerin zu sehen mit einem Kranz aus Messern um den Kopf, Zielscheibe in einer gruseligen Zirkusnummer. Dazu der Werktitel in weißen Lettern einmal quer übers Bild – ihn hat Sieverding aus der „ Zeit“ entliehen. Ursprünglich wurde die Arbeit als öffentliche Plakataktion für das Kulturprojekt „Platzverführung 1992/93“ in der Region Stuttgart entwickelt, stieß dort jedoch auf zu große politische Widerstände und wurde schließlich in Berlin plakatiert. Was ist das eigentlich, „deutsch“, und ist es erstrebenswert? Dieser Tage wieder eine drängende Frage.
Bande mit Beuys, Connection mit Kraftwerk
Was kann Kunst bewirken? Welche Verantwortung kommt Künstler*innen zu, politisch und moralisch? In ihrem monumentalen „Stauffenberg-Block“, der den gescheiterten Hitler-Attentäter im Titel trägt, hält Sieverding erneut das eigene Gesicht hin. Die Bande mit Beuys und seiner Sozialen Plastik scheinen in ihrem Werk immer wieder durch. Ihre Arbeit „Eigenbewegung“ dokumentiert in Form einer Wandzeitung, bestehend aus Schwarz-Weiß-Laserprints, Aktionen der Beuys-Klasse während der politisch bewegten Jahre 1967 bis 1969. Den Besucher*innen begegnen in diesem Zeitdokument nicht nur Joseph Beuys, sondern auch Imi Knoebel, Blinky Palermo, Chris Reinecke, Johannes Stüttgen, Jörg Immendorff – und einmal mehr Sieverding selbst. In die Ausstellung mit einbezogen wird überdies Sieverdings privates Archiv. Eine Premiere.
Den Soundtrack zum ersten Tonfilm der Künstlerin lieferte übrigens Kraftwerk. „Life – Death“ von 1969 trägt sein zentrales Thema im Titel – Leben und Tod als Polarität und große Komplexität. Mit filmischen Mitteln reflektiert Katharina Sieverding darin aber auch den feministischen Diskurs der sechziger Jahre. Was bedeutet es, Frau – was bedeutete es, Mensch zu sein?
Info
Die Ausstellung „Katharina Sieverding“ im K21 der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen läuft bis zum 23.3.2025.
Text: Eva Westhoff
Fotos: Kunstsammlung NRW