Portrait des Autors Kaleb Erdmann,d er in einem Sessel vor einem Fenster in seinem Wohnraum sitzt.

Zu Besuch bei Kaleb Erdmann, Autor der Romane „wir sind pioniere“ & „Die Ausweichschule“

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„In Little Tokyo essen zu gehen, rumzuschlendern, einen abgefahrenen japanischen oder koreanischen Nachtisch zu holen oder einen Bubble Tea, das gefällt mir sehr.“

Kaleb Erdmann ist auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2025, der im Oktober im Rahmen der Frankfurter Buchmesse verliehen wird. Der in Düsseldorf lebende Autor hat seinen nominierten Roman Die Ausweichschule Ende Juli veröffentlicht. Sein Debütroman wir sind pioniere wurde 2024 von der Lit.Cologne ausgezeichnet. Kaleb Erdmann lebt seit drei Jahren in Düsseldorf. Angefangen hat er auf Spoken-Word-Bühnen, manche kennen ihn vielleicht aus dem Zakk. Er war Autor für TV-Formate wie Till Reiners Happy Hour, hat für das Berliner Ensemble das Stück Always Carrey On geschrieben und ist in der Düsseldorfer Literaturszene aktiv. Wir haben den Autor für euch besucht und interviewt.

Kaleb Erdmann lehnt sich an einen öffentlichen Bücherschrank. Man sieht im Hintergrund Bäume, Straße und links einen Laternenpfahl, der viele Aufkleber hat.

Ich habe mit meinem Kollegen Sven-André Dreyer über deine Bücher geplaudert und dass du für den Deutschen Buchpreis 2025 nominiert bist: Herzlichen Glückwunsch. Gleichzeitig hatte Sven Befürchtungen, ob du uns erhalten bleibst, wenn du weiterhin so erfolgreich bist. Kann ich ihn beruhigen?
Ich bleib erstmal in Düsseldorf. Es ist natürlich schon so, dass es mich beispielsweise zwischendurch nach Berlin zieht. Aber ich bin gerade unglaublich zufrieden in Düsseldorf. Ich war vorher in Leipzig am Deutschen Literaturinstitut, während meine Partnerin bereits einige Zeit in Düsseldorf gelebt hat. Da ich als freier Autor mehr Möglichkeiten habe mich frei zu bewegen, bin ich dann vor drei Jahren hierhergezogen und habe mich sofort wohlgefühlt.

Es war also die Liebe …
Ja, die Liebe hat mich nach Düsseldorf verschlagen. Sie wohnt seit sechs oder sieben Jahren in der Stadt. Bevor ich mit meiner Partnerin zusammengezogen bin, bin ich oft hin und her gependelt. Ich war also schon seit längerem mit Düsseldorf vertraut.

Man sieht ein Bücherregal voller Bücher im Wohnraum von Kaleb Erdmann.

Du bist als Autor unglaublich vielseitig, dein Repertoire reicht von Spoken Word über TV-Formate, Theater bis hin zu Romanen. Und wie mir scheint, bist du in allen Disziplinen erfolgreich. Wie kommt es zu der Vielfalt?
Ich glaube, die Wurzel von allem sind die Spoken Word-Veranstaltungen. Ich mache das schon seit gut 15 Jahren, meine Partnerin übrigens auch. Es ist tatsächlich so, dass sehr viele Leute, die gerade im Entertainment, aber auch in der Literatur, Poesie oder allgemein im Bereich Kultur arbeiten, aus dieser Szene kommen. Es gibt eine gute Vernetzung, die viele von uns weit gebracht hat. Beispielsweise ist Till Reiners ein alter Kollege aus Poetry-Slam-Tagen.

Stimmt, du bist unter anderem Autor für die Sendung Till Reiners Happy Hour gewesen. Du hast außerdem zum Beispiel das Stück Always Carrey On für das Berliner Ensemble geschrieben und natürlich deine Romane.
Es hat sich mit der Zeit verselbstständigt und es ist immer mehr dazugekommen. Im Moment freue ich mich, dass ich mit dem Schreiben von Romanen auf eigenen Beinen stehen kann. Das möchte ich verstetigen – und damit ein bisschen Ruhe und Klarheit gewinnen.

Kaleb Erdmann sitzt auf seinem Sofa, während des Interviews. Rechts sieht man die Autorin unscharf im Anschnitt.

Du hast mit deinem Roman wir sind pioniere (s. u. Tipp) bereits 2024 einen Award eingeheimst: den Debütpreis der Lit.Cologne. Dein Debüt fällt auf den ersten Blick durch seine Form auf: alles kleingeschrieben, keine Satzzeichen – eine Art ohne Punkt und Komma, die das Lesetempo bestimmt. Du beschreibst einen kurzen Zeitabschnitt im Leben der Hauptfiguren Vero und Bruckner, und das äußerst detailliert. Als Leser*in ist man neugierig, wie es für Vero und Bruckner ausgeht. Das Ende lässt du aber offen, und das auf eine ziemlich abrupte Weise. Warum?
Darauf werde ich oft angesprochen. Ich glaube, ich fand diese Bewegung des Paares aufeinander zu einfach interessant, um dadurch zu zeigen, dass es im Grunde ein nicht endender Prozess ist und auch danach bleibt es ein Prozess, der Prozess einer aufeinander zu gerichteten Bewegung hört nicht auf. Die Frage: Bleiben die Beiden zusammen oder nicht? Das war für mich nicht so wichtig. Vielmehr fand ich das untereinander Aushandeln der beiden interessant, diese Unsicherheit mit Lebenskonzepten und das Alleingelassen sein mit der Vielfalt der Lebenskonzepte.

Die Ausweichschule (s.u. Tipp) ist ebenfalls ein Roman, aber – zumindest hinsichtlich des Amoklaufs an dem Gutenberg-Gymnasium in Erfurt – autobiografisch. Ich möchte an dieser Stelle weder dein Buch rezensieren noch über dein Erlebtes während des Amoklaufs und die Zeit danach sprechen, das werden bestimmt noch viele andere machen und wer mehr wissen möchte, muss ja eigentlich nur dein Buch lesen. Was ich interessant finde, ist dein Umgang mit den Medien. Ich habe zum Beispiel die Reportage im Spiegel (s. Info) gelesen, die du wohl zunächst nicht machen wolltest, sondern lieber ein Interview gegeben hättest. Der Gedanke liegt nahe, dass sich Medien zumindest teilweise dem Thema mit einer gewissen Sensationsgier annehmen. Das stelle ich mir sehr unangenehm vor. Hast du einen Plan, eine Strategie, wie du damit umgehen möchtest?
Absolut. Das war eine Frage, die ich mir davor ganz intensiv gestellt hab und auch immer noch stelle. Ich habe von Anfang an versucht, gemeinsam mit meinem Verlag, die Kommunikation nach außen wie Pressearbeit und Veranstaltungsankündigungen auf der literarischen Ebene zu halten. Es darauf zu fokussieren und drauf zu pochen, dass es ein Roman ist und es um den Roman geht. Für mich ist die zentrale Frage, was Literatur zu dem Themenkomplex Amok, Verarbeitung, Therapie et cetera beizutragen hat. Meine persönliche Geschichte als Betroffener ist nicht das Thema. Zumindest nicht direkt, sondern höchstens vermittelt über das Schreiben.

Man sieht den Schreibtisch von Kaleb Erdmann leicht von oben, rechts und links wird es unscharf. Auf dem Schreibtisch liegt ein Exemplar seines Romans "Die Ausweichschule".
Info

In Ausgabe 33 des Spiegel ist eine mehrseitige Reportage anlässlich des Erscheinens von Kaleb Erdmanns Roman Die Ausweichschule erschienen. Die Spiegel-Autorin fährt für die Reportage mit ihm nach Erfurt. Dabei geht es weniger um Literatur und das Buch, sondern vor allem um Kaleb selbst und wie er den Amoklauf an seiner Schule, dem Gutenberg-Gymnasium in Erfurt, erlebt hat.

Nichtsdestotrotz, wie du auch sagst, scheint das Interesse an meiner persönlichen Geschichte manchmal durch. Und das finde ich auch absolut nachvollziehbar. Der Artikel im Spiegel ist ein Beispiel dafür. Wobei ich gehadert habe. Ich hatte einerseits das Gefühl, das Interesse an mir sei verständlich. Ich dachte, es sei vielleicht okay, meine Geschichte einmal an einer Stelle zu erzählen. Aber im Nachhinein hatte ich das Gefühl, dass es auch stärker um Literatur und das Ringen mit dem Schreiben hätte gehen können. Der Spiegelartikel wurde zum Glück zu einem Zeitpunkt veröffentlicht, als bereits viele Rezensionen zu meinem Roman erschienen waren. Rezensionen, die eindeutig auf das Literarische abgezielt haben. Dafür war ich wirklich dankbar. Insbesondere habe ich mich sehr gefreut, dass es gleich zu Beginn der Veröffentlichung ganz klar im Mittelpunkt stand.

Kaleb Erdmann nimmt ein Buch aus dem öffentlichen Bücherschrank.

Ich möchte nochmal auf Düsseldorf zurückkommen, das ich nicht als Literatur-Hotspot bezeichnen würde. Umso schöner, dass du dich in der Stadt aufgehoben fühlst. Wie schätzt du Düsseldorf hinsichtlich seines Literaturangebots ein?
Es stimmt natürlich, dass es keine großen Literatur-Festivals in Düsseldorf gibt. Es gibt aber, wie ich finde, zwei richtig coole literarische Institutionen mit dem Literaturbüro NRW und dem Literaturhaus Düsseldorf, beziehungsweise Müller und Böhm, der Buchhandlung im Heine-Haus. Beide Institutionen finde ich super. Und sie stehen für ganz unterschiedliche Ansätze. Während das Literaturhaus eher die etablierte Literatur repräsentiert, bietet das Literaturbüro NRW auch Lesungen und Angebote für ein jüngeres, hipperes Publikum. Richtig cool ist beispielsweise die Reihe Die neue deutsche Seltsamkeit, die Emily Grunert (Leiterin des Literaturbüros NRW // Anm.d.Red.) macht. Es mag sein, dass man zum Beispiel in Köln jeden Tag zu einer anderen Lesung gehen kann und vielleicht gibt es dort auch mehr Kollektive. Aber manchmal tut Limitierung auch gut. Die Literaturszene ist in Düsseldorf spürbar, nicht zuletzt durch Autor*innen wie Mithu Sanyal, die eine tolle Schriftstellerin ist.

Kaleb Erdmann sitzt auf einem Stuhl vor einem Eckbüdchen in Düsseldorf. Es steht eine Reihe bunt zusammengewürfelter Stühle vor dem Büdchen.

Das ist eine sehr positive Einschätzung, wie schön, dass du das so siehst.
Ich muss außerdem sagen, allein die Literaturförderung ist eine ganz andere Nummer. Man merkt, dass Düsseldorf zum einen Geld hat und zum anderen, aber auch bereit ist, das Geld sinnvoll zum Beispiel für die Literaturförderung zu verwenden. Ich wäre wahrscheinlich nicht an dem Punkt, an dem ich jetzt bin, wenn mir nicht sowohl die Stadt Düsseldorf als auch das Land NRW finanziell unter die Arme gegriffen hätte. Das Angebot an Stipendien und anderen Hilfen ist einfach sehr gut.

Gibt es jemanden aus der Literaturszene Düsseldorf, die oder den du uns empfehlen möchtest?
Meral Ziegler macht fantastische Sachen. Sie ist übrigens zufällig meine Partnerin. (Lacht.) Ihr Buch Con Text, das sie vor vier Jahren veröffentlicht hat, ist eine Art Verarbeitung ihrer Spoken-Word-Zeit. Sie präsentiert ihre Bühnen-Texte wie Bilder in einem Museum, in dem sie verbindende Sequenzen schreibt, die so von einem Text zum anderen führen.

Worauf freust du dich, wenn du heimkommst nach Düsseldorf? Abgesehen von deinem zuhause …
Das wäre jetzt mein allererstes Ding gewesen. Ich liebe unsere Wohnung. Ich bin total gerne hier. Ansonsten freue ich mich auf jeden Fall auf Little Tokyo. Dort essen zu gehen, rumzuschlendern, einen abgefahrenen japanischen oder koreanischen Nachtisch zu holen oder einen Bubble Tea, das gefällt mir sehr. Little Tokyo finde ich absolut einzigartig. Ich bin ja ein bisschen herumgekommen und würde ohnehin behaupten, dass man in Deutschland in fast keiner Stadt so gut essen kann wie in Düsseldorf. Außer in Berlin, aber man hat eben nicht eine so vielfältige Essenskultur auf so engem Raum. Das lieben Meral und ich wirklich sehr.

kaleb-erdmann.de

Man sieht links den Roman "Die Ausweichschule" und rechts "wir sind pioniere" auf einer Aluoberfläche.
Tipp

wir sind pioniere ist 2024 bei Park x Ullstein erschienen. Der Roman handelt von Vero und Bruckner, die ausgelöst durch die Schwangerschaft von Vero, ihre (offene) Beziehung, berufliche Karrieren, also ihre Lebensentwürfe getrennt voneinander in Frage stellen. Während Bruckner von Graz über München seine Heimreise in Richtung Stuttgart antritt, muss Vero von Stuttgart nach Mannheim, um eine Affäre zu beenden – oder vielleicht nicht? Kaleb Erdmann erzählt aus wechselnden Perspektiven die Positionen des Paares und zeichnet anhand dessen das Dilemma, in der heutigen Zeit grundlegende Entscheidungen für das eigene Leben zu treffen.

Die Ausweichschule ist im Juli 2025 bei Park x Ullstein erschienen. Im Roman vereint Kaleb Erdmann in der Figur eines Autors Autobiografisches und Fiktives zum Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium. Der Ich-Erzähler arbeitet an einem Roman über das Ereignis, dabei zieht er immer wieder in Zweifel, ob er seine Geschichte überhaupt erzählen soll und darf. Traut den Erinnerungen seines elfjährigen Ichs, der zum Zeitpunkt des Amoklaufs im Biologieunterricht saß, nicht über den Weg. Sucht Form, Sprache und scheitert letztlich. Ganz im Gegensatz zu Kaleb Erdmann, dem das Kunststück gelingt Leichtigkeit reinzubringen und trotzdem ernsthaft zu bleiben.

Text: Cynthia Blasberg
Fotos: Eugen Shkolnikov

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